Sonntags abends im Juni war Planungszeit. Eigentlich waren die Beine noch schwer vom langen Abstieg des heutigen Tages. Lena Limmer und ich waren am Warscheneck vom Phyrnpass unterwegs gewesen, um über den Skilehrersteig die Rameschüberschreitung zu vollbringen, die uns auf dem Grundkurs Alpin die Woche zuvor aufgrund aufziehender Gewitterwolken nicht vergönnt gewesen war.
Doch schon auf der Heimfahrt nach Passau kamen uns neue Ideen. „Familiengerecht“ musste es sein, das bedeutete, dass ein Tag für den Berg möglich war, aber auch daheim genügend Zeit blieb. So war schnell eine Tagestour mit Anreise am Vorabend in nicht allzu großer Entfernung auserkoren. Noch abends schrieb ich also eine Nachricht in die WhatsApp-Gruppe unserer Hochtourengruppe, damit es spontan sein konnte, aber doch eine gewisse Vorplanung möglich war. Als Arbeitshypothese stellte ich die Hochkalterüberschreitung auf.
Es dauerte nicht lange, dass sich Vitus, Quirin, Sarah, Felix, Philipp und Christoph Moosbauer meldeten.
Bei Philipp schob sich dann doch noch ein Abendtermin dazwischen. Louis, Matthias und Kilian hingegen zog es in die Vertikale zwischen Karwendel, Rätikon und Fäustling.
Christoph Moosbauer entschied sich mit einem Freund für eine Hochkalter-Tagestour ab 6 Uhr am Parkplatz Hintersee, dafür etwas anspruchsvoller über’s Blaueis.
Die Blaueis-Hütte war schnell reserviert. Die private Tour steht. Mit dabei sind fünf Sektionsmitglieder aus der Hochtourengruppe, nämlich Vitus, Quirin, Sara, Felix und ich.
Genau rechtzeitig konnte ich mein Auto aus der Werkstatt abholen. So ging es am Freitag um 14 Uhr in Passau los. Sara und Felix, die aus München ökologisch wertvoll mit dem Zug nach Freilassung anreisten, holten wir am Bahnhof ab. Wenig später waren wir am vollkommen überteuerten Parkplatz Holzlagerplatz bei Ramsau. „Gemütlich“ wollten wir es angehen lassen, so starteten wir um 17:05 Uhr, die erste Hälfte des Anstiegs verlief noch in durchaus gemäßigtem Tempo. Dann, aber aufgewärmt, zogen wir an. Die Erinnerung trügte nicht, dass es ab der Materialseilbahn über die Stufen sich noch eine Weile zur Blaueis-Hütte ziehen würde. Quirin gab das Tempo vor. Er war richtig fit. Eigentlich waren wir nicht auf einer Hochzugsüberprüfung, doch rechtzeitig zum Abendessen die Hütte zu erreichen, war auch ein Argument. Immerhin schafften wir es in 1 Stunde 20 Minuten. So übel stand es also nicht um unsere Kondition.
Da wir nicht gleich Halbpension bestellten, kostete es etwas Überzeugungskraft, dem Hüttenwirt überhaupt noch etwas zu Essen abzuringen oder gar zu erfahren, was denn nun das Bergsteigeressen an diesem Abend sei (laut Hüttenordnung theoretisch ausgeschrieben und bis 20 Uhr erhaltbar). Netterweise durften wir zudem ins externe Winterlager. Erstaunlicherweise änderte sich seine Stimmung merklich, nachdem wir dann doch noch geschlossen Halbpension bestellten. Punkt 22 Uhr wurde uns verkündet, dass nun Hüttenruhe sei. Ja, die Wirtsleute haben dort oben einen harten Job und müssen wieder sehr früh morgens raus, aber ein ganz klein bisschen mehr Freundlichkeit sowie den letzten Schluck seines Getränks austrinken oder gar nur seinen Satz aussprechen zu dürfen, würde den der Hütte vorauseilenden Ruf vielleicht doch ein wenig relativieren, und ja, wir können lesen, und ja, wir halten uns generell an die Hüttenruhe. Da sind wir auf unseren Eiskursen von der Gastfreundschaft auf der Oberwalderhütte wohl doch einfach nur verwöhnt.

In der Nacht schüttete es wie prognostiziert, die Front zog also durch. Der nächste Morgen begann wolkenverhangen und erfrischend kühl.
Um kurz nach 8 Uhr kam Christoph Moosbauer mit seinem Kletterpartner aufgestiegen. Wir beide sind Alpinguides in der Sektion, zuletzt haben wir zusammen den Grundkurs Hochtouren auf der Oberwalderhütte in 2023 geleitet gehabt, doch heute sind wir jeweils privat unterwegs. Kurzer Smalltalk. Sie gingen also über den Blauseisgletscher auf den Hochkalter. Wir hingegen wollten über den sog. „Schönen Fleck“ auf den Gipfel.
Ein Schneefeld erleichterte uns den Zustieg über eine ansonsten eher hindernde Schuttrinne. Die Juni-Sonne war stark und ließ die Wolken mit dem Wind verfliegen. Der Name „Schöner Fleck“ ist eine griffige Platte im II. Grad. Schnell waren wir seilfrei in die Scharte aufgestiegen. Der Blick auf Mühlsturzhorn und Reiteralpe öffnet sich. Nun geht es weiter über Schrofen und durch Felsblöcke sowie Schneefelder am Grat aufwärts.



Eine weitere Felswand im II. Grat haben wir schnell überwunden. Dies soll wohl die schwerste Stelle gewesen sein. Den Gipfel des Rotpalfen nehmen wir natürlich mit. Immer dicht am Grat geht es entlang. An manchen Stellen ist der Fels brüchig, ansonsten fest. Leider versperrt der Nebel den Tiefblick auf das Blaueis, sodass wir Christoph Mossbauer nicht beobachten können. Der Grat ist heute Wetterscheide, so sind wir die meiste Zeit sogar in der Sonne.




Noch einmal kommt eine Kletterstelle im II. Grat. Das letzte Stück über Kleinkalter zum Hochkalter benötigt man in ähnlicher Schwierigkeit immer wieder die Hände. Doch auch absolute Trittsicherheit und Schwindelfreiheit werden einem abverlangt. In knapp unter drei Stunden erreichen wir den Gipfel des Hochkalter (2.607m).


Ist der Grat nun schwerer als die Watzmannüberschreitung, fragen wir uns, ich empfinde das Gegenteil. Doch ein versicherter Steig an dem einen Berg und andererseits ein unversicherter Steig am Hochkalter sind schwerlich vergleichbar. Zudem bin ich nach Nordostgrat am Warscheneck und Rameschüberschreitung dieses Frühjahr auch viel in entsprechend anspruchsvollem Gelände unterwegs gewesen. Dass der Hochkalter keineswegs zu unterschätzen ist, steht außer Frage, zu viele Nachrichten liest man immer wieder über Rettungen oder Blockaden, oder gar das Drama um den im Schneesturm abgestürzten Bergsteiger im September 2022. Am Gipfel ankommen ist immer auch ein Moment des Innehaltens und der Dankbarkeit.
Da hören wir Stimmen im Nebel aus Richtung Blaueisscharte. Christoph steht wenige Minuten später neben uns am Gipfel. Orientierungsmäßig war es bei ihnen im Nebel nicht ganz einfach, aber alles in allem verlief der Anstieg gut. So freuen wir uns auf ein Passauer Wiedersehen. Das gab es schon lange nicht mehr, dass zwei verschiedene Passauer Gruppen über zwei verschiedene Routen aufsteigen und sich am Gipfel treffen. Wenig war heute am Hochkalter los. Nur Laura aus Hallein machte ebenso die Überschreitung. Und zwei Trostberger waren noch über das Blaueis unterwegs.
Ein netter Ratsch am Gipfel. Sonne. Das Wolkenspiel. »kairóV« – der rechte Augenblick.

Christoph Moosbauer ging unsere Tour sozusagen rückwärts zur Blaueishütte zurück, während wir in das einsame Ofental abstiegen. Über 2.000 Höhenmeter Abstieg erwarteten uns. Konzentriert und mit dem nötigen Respekt waren wir unterwegs.


Beim ersten großen Schneefeld freuten wir Skifahrer uns auf etwas Spaß, zumal wir Bergstiefel und nicht nur Trailrunningschühchen anhatten. Doch just in dem Moment verschwand Laura aus Hallein im Bergschrund. Was für ein Schreck. Sie hatte sich den Trostbergern angeschlossen gehabt und war diesen am Schneerand gefolgt, doch der Schnee gab unter ihr nach. Wir konnten nur zusehen, wie sie fiel. Wir alle hatten einen Helm auf, nur sie nicht. Doch wie ein Wunder kletterte sie die zwei, drei Meter aus ihrer Beinahe-Gruft wieder herauf. Bis auf eine kleine Abschürfung am Unterarm war ihr nichts geschehen, auch der Kopf blieb vollkommen unverletzt. Wir alle atmeten tief durch.
Im nächsten Augenblick sprangen wir Skifahrer sodann auf den Schnee und „wedelten“ hinab. Verwundert blickten die Trostberger uns hinterher: „des moch i ned…“. Schnell waren wir im deutlich sicheren Talboden. Die Schneelawinen, die aus den Nordwänden noch kamen, konnten uns aufgrund größerer Entfernung nichts anhaben. Über mehrere Schneefelder konnten wir schnell Strecke machen. Das Ofental ist einsam, lang und zieht sich. Doch von unserem Alpinguide Simon Vogl wusste ich, dass der Steig von der Ofentalhütte über die Grubermahdhütte machbar ist. So war der Abstieg unterbrochen. Unterhalb der Gamssulzen und der wilden Schärtenwand ging es über den alten Jagersteig zurück Richtung Ramsau. Im Bereich der Weggabelung des Steigs zum Schönen Fleck war die Wegfindung nicht ganz trivial. Auch die vielen umgestürzten Bäume waren nicht nur störend, sondern stellten auch durchaus riskante Hindernisse dar.

Um kurz vor 17 Uhr kamen wir wieder am Parkplatz an. 24 Stunden am Berg. Die Hochkalterüberschreitung war gelungen. Ganz entspannt mit Übernachtung.
Voller schöner Eindrücke, aber gleichwohl erschöpft stiegen wir ins Auto. Pünktlich begann es zu regnen, wie auf fast jeder Tour in diesem Sommer. Sara und Felix setzten wir in Freilassing am Bahnhof ab. Zwei Stunden später waren wir schließlich zurück in Passau.
Nach der Tour ist vor der Tour. So die Überschrift der nächsten sonntäglichen WhatsApp. Am kommenden Samstag sollte die Welserhütte rufen. Aber das ist eine neue Tour und eine andere Geschichte.
Christoph Rother ist Initiator der Hochtourengruppe. Er ist als Trainer B Skihochtouren und Trainer B Hochtouren in der Sektion aktiv.
Fotos und Text: Christoph Rother